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Erika
Heidekräuter sind immergrüne, kompakte Zwergsträucher, unbedeutend, aber sehr nützlich. Der Winter kann ihnen nichts anhaben und im Frühling locken sie mit ihren Farben Bienen an. Die meisten Erica-Arten sind im südlichen Afrika beheimatet. Sie verirren sich nach Europa, Deutschland, Regensburg und bleiben dort fremd.

Erika, 1923 geboren, gehörte zu niemandem. Nicht zu der zehn Jahre älteren Schwester, mit der sie in der Landshuter Straße aufwuchs, nicht zu den Nichten und Neffen, die sie Tante nannten. Nicht zu der Pflegemutter, die ihr mit 18 Jahren notgedrungen die Wahrheit sagen musste: „Du bist keine von uns, aber du kannst bleiben.“

Erika fängt im Messerschmidt-Werk an, das seit 1939 Nationalsozialistischer Musterbetrieb ist und Flugzeuge für die Luftwaffe produziert. Hier lernt sie Wolferl kennen und lieben, doch der ist verheiratet. Zu ihm darf sie offiziell nicht gehören. Das Paar liebt sich heimlich, im Verborgenen. Währenddessen trägt die ME 109 zum Erfolg der deutschen Luftwaffe bei. Am 17.August 1943, als 126 Boeing B-17 Flying Fortress ihre Bombenladungen über Prüfening abwerfen und 400 Menschen töten, wird Erika verschüttet. Aus den Trümmern bringt sie Migräne mit, gegen die sie starke Schmerzmittel nehmen muss.

1976 stirbt die Pflegemutter, da ist Erika 53, und der Schwager erklärt: „Wir wollen nicht, dass die Leute reden. Vielleicht bist du ein Unfall gewesen, als der Bruder der
Schwiegermutter mit der Schwester seiner Frau… So genau weiß das keiner. Aber falls wir eine Verantwortung gehabt haben, als Familie, ist diese nun abgegolten. Bitte geh.“

Tante Erika ist stets gut gekleidet gewesen, erzählt dieNichte. Den grünen Schmuck, den sie als Kontrast zum roten Haar trug, hat sie ihr vererbt. Die Nichte mochte die
impulsive Tante, die gern ein Glas trank. Wer konnte es ihr verübeln? 40 Jahre musste sie warten, bis sie den Mann heiraten durfte, dem einzig und allein ihr Herz gehörte; 1980, im alten Regensburger Rathaus. Und dann stürzt er beim Schmücken des Weihnachtsbaumes von der Leiter. Und bricht sich das Genick. Das darauffolgende Weihnachtsfest verbringt Erika allein. Man findet sie, umgeben von Geschenken und ihren Tabletten, im tiefen, tiefen Schlaf.

Wenn Erikas Sternenstaub durch die Atmosphäre fliegt, frage ich mich, wer zu ihr aufschaut, wer ihn bemerkt, den Stardust, den sie hinterlassen hat. Ist sie wirklich ein Heidekraut gewesen? Es ist ja so, dass viele Zwergsträucher der Heidelandschaft fälschlicherweise „Heidekraut“ genannt werden, ohne dass sie zu den Heidekräutern (Erica) gehören. Zum Beispiel ist die Besenheide, die in Europa oft die überwiegende Pflanzenart einer Heidelandschaft ist, zwar eine enge Verwandte, aber eben keine
Erika.